Eine gesalzene Lösung: Das Molten Chloride Reactor Experiment von TerraPower
Alle paar Jahrzehnte unternimmt die Kernenergie einen stillen Anlauf zur Neuerfindung. In den 1950er Jahren war es der schnelle Brüter. In den 1970ern der Thoriumkreislauf. In den 2000ern die Ära passiver Sicherheit. Und nun scheint der Staffelstab an eine neue Generation flüssig befeuerter, salzgekühlter Reaktoren überzugehen – angeführt von einem physikalisch vielversprechenden, chemisch jedoch anspruchsvollen Konzept: dem Molten Chloride Fast Reactor (MCFR). Doch bevor ein solcher Reaktor ans Netz geht, läuft in Idaho ein entscheidendes Vorprojekt: das Molten Chloride Reactor Experiment (MCRE).
Unter Leitung von TerraPower und Southern Company, mit Unterstützung des US-Energieministeriums und des Idaho National Laboratory (INL), verfolgt das MCRE ein bislang unerreichtes Ziel: den Nachweis der Kritikalität in einem schnellen Reaktor, der geschmolzenes Chloridsalz gleichzeitig als Brennstoff und Kühlmittel verwendet. Damit sollen zentrale technische und chemische Fragen geklärt werden, die Chloridsalze bislang aus dem Fokus der Reaktorentwicklung gedrängt haben – und womöglich ein Weg zu einer neuen, sichereren und nachhaltigen Kernkraft aufgezeigt werden.
Die Argumente für Chlorid
Um die Bedeutung des MCRE zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die neutronenphysikalischen Grundlagen. Die meisten früheren Versuche mit Flüssigsalzreaktoren (MSRs) basierten auf Fluoridsalzen und thermischen Neutronenspektren – oft moderiert durch Graphit, mit Brennstoffen wie UF₄ oder ThF₄ in LiF-BeF₂-Gemischen. Diese Systeme bieten elegante Lösungen für Thoriumzyklen und kritische Anfahrbedingungen, stoßen aber an physikalische Grenzen beim effizienten Abbau langlebiger Aktiniden.
Schnelle Reaktoren, die ohne Moderator auskommen, ermöglichen hingegen:
die Spaltung sämtlicher Aktiniden, inklusive Plutonium und Minor Actiniden wie Americium oder Curium,
geschlossene Brennstoffkreisläufe mit In-situ-Wiederverwertung,
kompaktere Reaktorgeometrien bei höherer Neutronenflussdichte.
Hier kommen Chloridsalze ins Spiel. Im Vergleich zu Fluoriden haben sie:
niedrigere Neutroneneinfangquerschnitte,
bessere Löslichkeit für schwere Aktiniden,
überlegene Wärmeleitfähigkeit bei höheren Temperaturen.
Doch Chloridsalze bringen auch massive Herausforderungen mit sich – insbesondere im Bereich der Korrosion.
Was genau im MCRE getestet wird
Das MCRE ist kein Leistungsreaktor, sondern ein experimentelles Niedrigleistungsmodell, das im LOw-Temperature Universal Salt (LOTUS)-Teststand des INL untergebracht ist. Es wurde konzipiert, um:
die erste Kritikalität eines schnellneutronigen Chloridsalzsystems zu demonstrieren,
neutronenphysikalische Daten wie Reaktivitätskoeffizienten und Flussprofile unter realen Bedingungen zu gewinnen,
das Verhalten von Materialien, Beschichtungen und Messtechnik im Zusammenspiel mit Neutronenfluss, Salzchemie und Temperatur zu untersuchen,
Grundlagen für das Design, die Genehmigung und die kommerzielle Entwicklung eines zukünftigen MCFR zu schaffen.
Der Brennstoff ist ein auf Uran basierendes Chloridsalz – wahrscheinlich eine eutektische Mischung aus UCl₃, NaCl und eventuell MgCl₂. Der Reaktor arbeitet bei atmosphärischem Druck und nutzt einen geschlossenen Kreislauf mit zirkulierendem Flüssigbrennstoff. Kein Moderator, keine Brennstäbe, keine Notkühlpumpen. Stattdessen gewährleisten passive Sicherheitselemente wie Ablasstanks und gefrierbare Stopfen einen sicheren Lastabwurf.
Besonders ist nicht die Größe des Reaktors, sondern sein Anspruch: die exakte Vermessung und Beherrschung des physikalisch-chemischen Zusammenspiels in einem chloridbasierten Flüssigsalzreaktor unter neutronenreicher Umgebung.
Materialwissenschaft versus Naturgesetz
Chloridsalze bringen enorme Vorteile in der Reaktorphysik – doch sie fordern in der Werkstofftechnik ihren Tribut. Unter hohen Temperaturen und starker Strahlung sind sie extrem korrosiv. Schutzschichten werden aufgebrochen, Oxidfilme destabilisiert, und metallische Komponenten zersetzt.
Das MCRE fungiert daher auch als Materialteststand. Erprobt werden:
hochlegierte Nickelwerkstoffe wie Hastelloy-N, INOR-8 oder modifizierte Varianten von 316H,
keramische Beschichtungen wie Yttrium-stabilisierte Zirkonoxid- oder Siliziumkarbid-Schichten,
chemische Reinigungs- und Entgasungssysteme, die Spurenelemente wie Sauerstoff oder Wasser aus dem Salzkreislauf entfernen – Substanzen, die bei Reaktion mit Chloridsalz HCl bilden und Korrosion exponentiell verstärken.
Zentral ist dabei die Kontrolle des Redoxpotentials im Salzkreislauf – eine Art elektrochemisches Gleichgewicht, das den Übergang zu oxidierenden oder reduzierenden Bedingungen unterbindet. Nur so lassen sich stabile Betriebsbedingungen und lange Materialstandzeiten gewährleisten.
Ein Reaktor für das post-fossile Zeitalter?
Gelingt das Experiment, bietet der MCFR weit mehr als akademische Erkenntnisse. Das Ziel ist ein modularer, skalierbarer Reaktor für:
netzstabilisierende Stromproduktion mit kleinem Flächenbedarf,
industrielle Prozesswärme (z. B. für Wasserstoff-, Ammoniak- oder Meerwasserentsalzung),
Aktinidenreduktion durch effiziente Spaltung langlebiger Nuklide,
hohe Nichtverbreitungsresistenz durch geschlossenen Kreislauf und keine abtrennbaren Plutoniumströme.
Dank seiner hohen Betriebstemperatur (etwa 700 °C) und seines niedrigen Betriebsdrucks verspricht der MCFR hervorragende thermische Wirkungsgrade. Und durch seine inhärente Lastfolgeeignung und passive Sicherheit eignet er sich ideal als Grundlastpartner für fluktuierende erneuerbare Energien.
Der Weg nach vorn
Die Testphase des MCRE ist in vollem Gange. Zwischen jetzt und 2028 sollen Betriebsdaten erhoben werden, die das Fundament für künftige Genehmigungen und Designs bilden. Ein Demonstrationsreaktor im kommerziellen Maßstab könnte bereits in den frühen 2030er Jahren Realität werden.
Doch der Weg ist steinig. Die Chemie bleibt herausfordernd, die regulatorischen Hürden hoch, und es gibt keinen historischen Präzedenzfall, auf den man zurückgreifen könnte. Gelingt der Durchbruch, entsteht hier jedoch mehr als ein neuer Reaktortyp – es entsteht eine neue Reaktorklasse.
Fußnote
Wer bei TerraPower arbeitet, kennt viele der hier genannten Herausforderungen vermutlich im Detail. Doch für Beobachter von außen – oder all jene, die sich fragen, ob die Kernenergie über Leichtwasserreaktoren hinaus eine Zukunft hat – ist das MCRE mehr als ein Versuchsreaktor. Es ist ein Lackmustest für den nächsten großen Sprung in der Reaktortechnologie. Nicht weil es spektakulär ist. Sondern weil es funktionieren könnte.
Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (CC BY 4.0).
Gerne darfst du es teilen, anpassen und weiterverwenden — bitte gib dabei eine angemessene Urheberangabe an.