Eine Entschuldigung an die Webseiten, die ich nie zu Ende gelesen habe

Ein offizielles Schreiben der Abteilung für digitale Unterlassungen

Sehr geehrte Webseiten,
wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Sie nicht zu Ende gelesen wurden.

Wir, die Unterzeichnenden, handelnd im Namen der modernen Aufmerksamkeitsspanne und in Absprache mit drei halbleeren Geräten, möchten Ihnen unsere aufrichtige Entschuldigung dafür aussprechen, dass wir Ihre sorgfältig recherchierten, liebevoll geschriebenen und teilweise sogar mit Fußnoten versehenen Inhalte nicht zu Ende gelesen haben.

Die Schuld liegt nicht bei Ihnen.

Sie waren informativ. Sie waren gut formuliert. Einige von Ihnen hatten sogar Diagramme. Aber Umstände außerhalb Ihrer Kontrolle — und, offen gesagt, außerhalb unserer — führten dazu, dass wir Sie im digitalen Stich ließen.

Fall A: Die Langform-Webseite über das Mongolische Reich

Abbruchstelle: Absatz 4
Grund: Musste googeln, ob „mongolisch“ und „mongolischstämmig“ das Gleiche sind, landete dabei auf einer Webseite über vergorene Stutenmilch und vergaß zurückzukehren.

Sie hätten mehr verdient.

Fall B: Die persönliche Webseite, die eindeutig auf etwas hinauswollte

Abbruchstelle: Mitten im Scrollen
Grund: Öffnete einen neuen Tab, um das Wetter für eine hypothetische Reise zu prüfen. Überprüfte außerdem drei E-Mail-Postfächer. Die Webseite schwebt nun allein im Browser-Nirvana zwischen Tab 37 und thermodynamischem Zerfall.

Fall C: Eine datenbasierte Webseite darüber, warum niemand mehr Artikel zu Ende liest

Abbruchstelle: Ironischerweise direkt nach dem ersten Zitat
Grund: Dopamin. Weitere Erklärungen liegen nicht vor.

Zur Frage der Lesezeichen

Wir erkennen an, dass „Ich lese das später“ in 97 % der Fälle ein Euphemismus für „Ich werde diese Webseite nie wieder öffnen, möchte mich dabei aber trotzdem gut fühlen“ ist.

Wir verfügen derzeit über 214 gespeicherte Webseiten. Keine davon wurde jemals wieder mit ehrlicher Absicht geöffnet. Einige stammen noch aus der Zeit, als „Dark Mode“ eine technische Innovation war.

Geplante Abhilfemaßnahmen (noch in Prüfung)

Zur Reduzierung zukünftiger Vorfälle evaluieren wir derzeit die folgenden Initiativen:

  • Wöchentlich eine Webseite vollständig lesen — sitzend, ohne Benachrichtigungen¹

  • Lange Texte ausdrucken wie im Jahr 2003

  • Per RSS abonnieren und so tun, als ob das hilft

  • Eine Wand anstarren, um prä-digitale Gehirnmuster zu reaktivieren

¹ Diese Maßnahme wurde aufgrund eines nicht überspringbaren Werbevideos ausgesetzt.

Abschließende Bemerkung

An all die Webseiten, die wir auf halber Strecke, mitten im Satz oder noch vor der zweiten Zwischenüberschrift verlassen haben: Wir sehen euch. Oder besser gesagt: Wir haben euch gesehen — für einen Moment — bevor uns eine Push-Benachrichtigung abgelenkt hat.

Ihr wart wichtig. Und in einer kleinen, schuldbewussten Ecke unserer Seele — oder unseres Browserverlaufs — seid ihr es immer noch.

Bitte akzeptiert diese Entschuldigung als symbolische Geste der Reue.
Wir lesen euch irgendwann zu Ende. Wahrscheinlich. Vielleicht.
Es sei denn, irgendwas Interessanteres passiert.

Hochachtungsvoll,
Die Kommission für gut gemeinte digitale Unterlassungen

Dieses Werk steht unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (CC BY 4.0).
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