Muttertag: Vom Friedensappell zum globalen Feiertag
Jeden Mai überschlagen sich Floristen mit Bestellungen, Brunch-Termine sind Wochen im Voraus ausgebucht, und Grußkarten verkaufen sich millionenfach. Der Muttertag erscheint heute vielen als fröhliches, aber kommerzialisiertes Ritual – ein „Feiertag der Grußkartenindustrie“, wie Zyniker sagen. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich eine überraschend komplexe und sogar radikale Geschichte. Der Muttertag wurde keineswegs aus Profitgier erfunden, sondern entstand als moralische und politische Bewegung – tief verwurzelt in Gemeinsinn, Trauer und Friedensarbeit.
Das Vermächtnis der Jarvis-Familie: Geburt einer Mission
Die Geschichte beginnt im 19. Jahrhundert in den Appalachen, wo Ann Reeves Jarvis, eine sozial engagierte Mutter in West Virginia, die verheerenden Folgen schlechter Hygiene und hoher Kindersterblichkeit hautnah miterlebte. In den 1850er Jahren gründete sie „Mother’s Day Work Clubs“. Diese waren keine Kaffeekränzchen, sondern gemeindebasierte Initiativen zur Gesundheitsaufklärung. Sie unterstützten Mütter dabei, ihre Familien gesund zu halten – in einer Zeit, in der medizinische Versorgung kaum existierte.
Während des Amerikanischen Bürgerkriegs blieben diese Clubs neutral und kümmerten sich um Soldaten beider Seiten – Union und Konföderation. Nach dem Krieg setzte Jarvis ihre Versöhnungsarbeit fort, indem sie einen „Mother’s Friendship Day“ organisierte. Ziel war es, Familien zusammenzubringen, die durch den Krieg entzweit worden waren. Für Jarvis war Mutterschaft keine rein private Rolle – sie war ein moralischer Kompass für eine zerrissene Nation.
Anna Jarvis: Die Frau, die den Feiertag etablierte – und dann bekämpfte
Nach Anns Tod im Jahr 1905 übernahm ihre Tochter Anna Jarvis das Erbe – jedoch auf andere Weise. Vom Verlust ihrer Mutter tief getroffen, wollte Anna ihr Andenken ehren und zugleich die gesellschaftliche Bedeutung der Mutterschaft hervorheben. Sie begann, für einen nationalen Gedenktag zu werben – einen stillen Tag der Besinnung, des Gebets und handgeschriebener Dankesbriefe.
Dank ihres unermüdlichen Einsatzes erklärte Präsident Woodrow Wilson im Jahr 1914 den Muttertag zum offiziellen Feiertag – jährlich am zweiten Sonntag im Mai.
Doch schon bald erkannte Anna, dass ihre Vision entstellt wurde. Grußkartenverlage, Floristen und Süßwarenhersteller nutzten die Gelegenheit – aus dem besinnlichen Tag wurde ein kommerzielles Spektakel. Bereits in den 1920er Jahren sprach sich Jarvis öffentlich gegen den Feiertag aus, den sie selbst ins Leben gerufen hatte.
Bei einer Protestaktion wurde sie sogar wegen Ruhestörung verhaftet. Den Großteil ihres späteren Lebens widmete sie dem Kampf gegen die Kommerzialisierung, die sie ungewollt ausgelöst hatte. Sie starb mittellos in einem Sanatorium – ironischerweise finanziert durch Spenden jener Industrien, die am Muttertag verdienten.
Warum „Mother’s Day“ und nicht „Mothers’ Day“?
Anna Jarvis bestand darauf, dass das Apostroph vor dem „s“ stehen müsse.
Der Tag solle der eigenen Mutter gewidmet sein – nicht allen Müttern im Kollektiv.
Persönlich, nicht allgemein – das war ihr Anliegen.
Gab es Mutterfeiern in anderen Kulturen?
Ja – und nein. Zwar erfand Anna Jarvis den modernen westlichen Muttertag, doch viele antike Kulturen kannten Feste zu Ehren mütterlicher Gottheiten oder weiblicher Ideale.
Die alten Griechen feierten Rhea, die Mutter der Götter, mit Frühlingsfesten.
Die Römer veranstalteten die mehrtägigen Matronalia zu Ehren der Juno, Göttin von Ehe und Geburt.
Im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Großbritannien entwickelte sich der sogenannte „Mothering Sunday“, ursprünglich religiös geprägt. Am vierten Sonntag der Fastenzeit kehrten Gläubige in ihre „Mutterkirche“ zurück – ein Brauch, der später mit Familientreffen, insbesondere mit den Müttern, verbunden wurde. Diese Tradition geriet im 19. Jahrhundert in Vergessenheit, wurde aber während des Zweiten Weltkriegs im Vereinigten Königreich neu belebt – beeinflusst durch den amerikanischen Muttertag.
Globale Verbreitung: Kulturelle Anerkennung oder Exportware?
Die Vereinigten Staaten waren das erste Land, das einen modernen Muttertag einführte – doch bald verbreitete sich die Idee weltweit. Oft war dies weniger Ausdruck gemeinsamer kultureller Wurzeln, sondern Ergebnis amerikanischer Medien- und Konsumkultur.
Heute wird in über 100 Ländern irgendeine Form von Muttertag gefeiert – allerdings nicht überall am selben Datum. Beispiele:
Vereinigtes Königreich: Feiern den „Mothering Sunday“ meist im März.
Frankreich: Die „Fête des Mères“ findet Ende Mai oder Anfang Juni statt, oft mit offizieller Anerkennung durch die Regierung.
Thailand: Am 12. August, dem Geburtstag von Königin Sirikit, die als „Mutter der Nation“ verehrt wird.
Äthiopien: Feiern das mehrtägige Fest Antrosht am Ende der Regenzeit – mit Essen, Musik und Familientreffen.
Ägypten, Saudi-Arabien und andere arabische Länder: Begehen den Muttertag am 21. März – zur Tagundnachtgleiche.
Oft vermischen sich lokale Bräuche mit importierten Ideen – so entsteht ein Mix aus persönlichen, religiösen und kommerziellen Elementen.
Also doch ein reiner Konsumtag?
Ja – und nein. Die Blumen, die Karten und die Sonderangebote stammen zweifellos aus dem 20. Jahrhundert und wurden stark durch wirtschaftliche Interessen geprägt. Doch im Kern ging es beim Muttertag ursprünglich darum, Opfer zu ehren, Frieden zu fördern und die oft unsichtbare Arbeit von Müttern anzuerkennen – nicht nur im Privaten, sondern auch im öffentlichen Leben.
Wenn überhaupt, dann ruft uns der ursprüngliche Geist des Muttertags nicht dazu auf, mehr zu kaufen – sondern mehr zu reflektieren:
Über das historische Gewicht der Fürsorge, die moralische Kraft der Mutterschaft und die stille Resilienz jener Frauen, die Familien – und manchmal ganze Nationen – zusammenhalten.
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