Warum Energie nicht Leistung ist – und warum dieser Unterschied immer noch politische Entscheidungen verzerrt
Leistung bekommt die Schlagzeilen. Energie hält das Netz am Laufen. Wer das verwechselt, plant gegen die Physik.
In politischen Energiedebatten, bei Infrastrukturentscheidungen und selbst in Anlegerberichten wird ein fundamentaler Fehler immer wieder gemacht: die Gleichsetzung von Leistung und Energie. Ingenieurinnen und Ingenieure kennen den Unterschied – doch in Ausschreibungen, ESG-Berichten und Gesetzestexten werden die Begriffe oft verwechselt. Das hat reale Folgen: für die Netzstabilität, die Investitionsplanung und die Glaubwürdigkeit der Energiewende.
Dabei geht es nicht um Wortklauberei, sondern um physikalische Grundbegriffe. Und genau dieser Denkfehler kann das Gelingen der Energiewende untergraben – indem er die Möglichkeiten erneuerbarer Energien überschätzt, die Anforderungen an Speicher unterschätzt und systematisch falsche Anreize setzt.
1. Begriffsbestimmung: Watt und Wattstunden
Beginnen wir bei den Grundlagen:
Leistung (gemessen in Watt, Kilowatt oder Megawatt) ist die momentane Umsetzungsrate von Energie – also wie schnell Energie verbraucht oder erzeugt wird.
Energie (gemessen in Wattstunden, Kilowattstunden oder Megawattstunden) ist die Menge an Arbeit, die über eine Zeitspanne geleistet wurde – also das Ergebnis dieser Umsetzung.
Leistung ist ein Zeitpunktwert. Energie ist ein Summenwert.
Analogie:
Leistung ist wie Geschwindigkeit, Energie wie zurückgelegte Strecke.
Wenn ein Auto mit 60 km/h fährt, ist das eine Leistung.
Nach einer Stunde hat es 60 km zurückgelegt – das entspricht der Energiemenge.
2. Warum diese Verwechslung so hartnäckig ist
Die Ursache liegt häufig in der Kommunikation: Neue Energieprojekte werden in Megawatt beworben – also mit der maximalen Leistung, die sie liefern können. Doch insbesondere bei Solar- und Windkraft ist das keine verlässliche Aussage über den tatsächlichen Energieertrag.
Beispiel:
„Diese Solaranlage erzeugt 250 Megawatt – genug für 100.000 Haushalte.“
Das klingt beeindruckend. Aber ohne Angaben zu:
Kapazitätsfaktor (z. B. 20–30 % bei Solar)
Tages- und Jahresprofil der Erzeugung
Speicher oder Regelbarkeit
Lastdeckung zu Spitzenzeiten
… ist diese Aussage irreführend. Die Anlage liefert eben nicht dauerhaft 250 MW – sondern nur unter Idealbedingungen.
3. Speicherdauer zählt – mehr als viele denken
Betrachten wir ein Batteriesystem mit folgender Spezifikation:
150 MW / 600 MWh
Das bedeutet:
150 MW Leistung für 4 Stunden
oder 100 MW für 6 Stunden
oder 75 MW für 8 Stunden
Wenn Netzbetreiber oder politische Entscheidungsträger dies als gleichwertig mit einem konventionellen 150-MW-Kraftwerk ansehen, entsteht ein Problem: Die Batterie ist nach 4 Stunden leer. Bei langanhaltender Nachfrage (z. B. an heißen Sommerabenden oder in Kältewellen) fehlt schlicht die Energie, um weiter Strom zu liefern.
Realbeispiel:
Beim Wintersturm in Texas im Februar 2021 stand Energie zur Verfügung – an manchen Orten sogar im Überschuss. Aber Leistung, also abrufbare MW in Echtzeit, fehlte. Die Folge: systemweiter Zusammenbruch, trotz installierter Erzeugungskapazität.
4. Wenn Schlagzeilen in die Irre führen
Die Gleichsetzung von Energie und Leistung führt zu systematischen Fehleinschätzungen:
Überdimensionierung von Photovoltaik ohne Speicher
Einsatz zu kurz laufender Batterien für zu lang dauernde Lastspitzen
Falsche Annahmen bei Kapazitätsersatz („5 GW Solar = 5 GW Kohle“)
Unterschätzung von Backup-Bedarf bei Dunkelflauten
Beispiel:
Ein Bundesland kündigt stolz 5 GW neue Solarleistung an. Aber an einem trüben Wintertag kommen mittags nur 500 MW zustande – und ab 17 Uhr nichts. Wird das nicht durch Speicher oder regelbare Kraftwerke ergänzt, bricht die Versorgung zur Lastspitze ein.
5. Die Märkte unterscheiden es – tut die Politik das auch?
Strommärkte berücksichtigen den Unterschied längst:
Energiemärkte entlohnen die tatsächlich eingespeisten MWh
Kapazitätsmärkte vergüten die Bereitstellung von Leistung – auch wenn sie nicht abgerufen wird
Ein Gasturbinenkraftwerk kann mit wenigen Starts pro Jahr gute Kapazitätserlöse erzielen – weil Verfügbarkeit bezahlt wird, nicht Nutzung. Speicher mit kurzer Dauer können gewisse Märkte bedienen (z. B. Regelleistung), sind aber für stundenlange Versorgungslücken ungeeignet.
Beispiel:
In Märkten wie PJM oder ISO-NE wird der ELCC (Effective Load Carrying Capability) berechnet – also der tatsächliche Beitrag eines Erzeugers zur Spitzenlastdeckung. Das zeigt: Nicht alle Megawatt sind gleich viel wert.
6. Auch auf der Verbrauchsseite wird verwechselt
Ein Unternehmen hat:
Einen maximalen Leistungsbedarf (z. B. 5 MW zur Mittagszeit)
Und einen Energieverbrauch von vielleicht 80 MWh pro Tag
Beides sind relevante Werte – aber für unterschiedliche Fragestellungen.
Solarstrom oder Batteriespeicher helfen oft nur, den Energieverbrauch zu senken – nicht die Spitzenlast. Wer beides nicht unterscheidet, plant an der Wirklichkeit vorbei.
7. Planung braucht beides: Leistung und Energie
Ein stabiles Netz muss gewährleisten:
Genügend Energie (MWh) über den Tag, die Woche, das Jahr
Genügend Leistung (MW) in jeder Minute – besonders in kritischen Stunden
Beides ist unverzichtbar. Und beides kann nicht beliebig ersetzt werden.
Denkfehler:
100 GWh Batteriespeicher sind wertlos bei einem Bedarf von 20 GW Leistung – wenn die Batterien nur mit 5 GW entladen können. Speicherleistung begrenzt hier die tatsächliche Versorgungsfähigkeit, nicht die Energiemenge.
Fazit: Wer diesen Unterschied nicht kennt, versteht das System nicht
Watts vs. Wattstunden – das ist kein Randthema. Es ist die physikalische Grundstruktur der Stromversorgung.
Leistung beschreibt, wie schnell Energie fließt.
Energie beschreibt, wie viel geflossen ist.
Verwechselt man beides, wird jedes nachgelagerte Planungsdokument fehleranfällig: beim Ausbau, beim Netzdesign, bei der Marktgestaltung.
Wer die Energiewende ernsthaft mitgestalten will – ob technisch, politisch oder kommunikativ – sollte diesen Unterschied verinnerlichen.
Denn: Nur weil ein Projekt viele Megawatt bietet, heißt das nicht, dass es die Last trägt – wenn es darauf ankommt.